Einführung
Ein Knoten aus sozialer Benachteiligung, Machtstrukturen und ideologisch festgefahrenen Diskursen manifestiert sich in aktuellen Krisen und medial diskutierten Phänomenen. Dieser Komplexität stellen sich oft eindimensionale weltanschauliche Erklärungsmuster entgegen: Ungleichheit und Ungerechtigkeit werden als Teil eines größeren Ganzen hingenommen, vielschichtige Themen auf eine einzige Begründung heruntergebrochen.
Versuchte die zweiteilige Ausstellung Strike Gently Away geradlinige Erzählungen von Geschichte und Herkunft, die Zuordnung von Gender, gesellschaftlichen Rollen und Vorstellungen von Kunst sanft abzustreifen, interessierte uns in der Weiterführung dieser Fragen, wo vielschichtigere Bilder zur eigenen Positionierung ihren Ort haben könnten. Als ergebnisoffene kuratorische Forschung initiiert, führt ORBIT Stränge der vergangenen Ausstellungen von THE REAL OFFICE weiter mit Kunstprojekten, die Ansatzpunkte bieten, komplexe Probleme wie Arbeitsmigration oder Diskriminierung zu kontextualisieren und als organisches Ganzes zu betrachten. Der vor den aktuellen Einschränkungen für Veranstaltungen gefasste Plan sah ein Event an einem Tag vor, bei dem die Arbeiten gemeinsam mit Künstler*innen und dem Publikum in kleinen Runden diskutiert und auch unsere Auswahlprozesse für Ausstellungen thematisiert werden würden. Ein weiteres Anliegen war die Ausdehnung dessen, was in einer Ausstellung seine ‚Daseinsberechtigung‘ hat: etwa Strategien aus der Popmusik, die sich ebenso mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen auseinandersetzen, wenn auch auf andere Weise als bildende und darstellende Künste. Diese Kombination konnten wir auch in unserem Onlineformat realisieren. Für ein Wochenende zeigen wir eine Auswahl von Musikvideos und Videoarbeiten, die konkrete Auswirkungen globaler Dynamiken auf Einzelne in Bilder und Musik übersetzen. Die Frage nach den Strukturen und den Beziehungen, in denen wir uns bewegen und die uns beeinflussen, ist dabei immer essenziell: als Erbe, als Erwartung oder als Institution.
Ebenso, wie die gezeigten Arbeiten nicht als Antworten gelesen werden sollten, ist auch ORBIT als Ganzes lediglich ein Versuch in einem Diskursgeflecht, das intersektionale, vernetzte Theorien vorzieht. Da Eindimensionalität und einfache Erklärungen oft als Ausweg aus diesen komplexen Mustern angesehen werden – und wir oftmals in die Falle tappen, selbst ebensolche geradlinigen Gegennarrative zu entwerfen –, ist es wichtig, dass in den gewählten Arbeiten keine Eindeutigkeit hergestellt wird, sondern wir die Komplexität entgegenstehender (Inter-)Aktionen nachvollziehen können. ORBIT verfolgt deren Umlaufbahn, die zwischen Anziehungskraft und freiem Fall entsteht: Während die Eindeutigkeit der Narration verschwindet, bestimmen all die auseinanderdriftenden Faktoren ein Zentrum und dessen ORBIT.
Videos online: 9. — 10. Januar 2021
Ane Hjort Guttu, Tiden går / Time Passes, 2015
Tiden går / Time Passes
Die junge Kunststudentin Damla schließt sich als Teil ihres Kunstprojektes einer jungen Roma zum Betteln auf der Straße an. Ihre Versuche, Aufmerksamkeit auf die soziale und wirtschaftliche Misere der Obdachlosen zu lenken, bringen sie, nachdem sie an der Kunsthochschule von Kolleg*innen und Dozent*innen kritisiert wird, dazu, infrage zu stellen, woran sie glaubt und was für sie Identität und Kunst bedeuten. Ane Hjort Guttus Film hinterfragt das Verhältnis von Kunst zu Politik und ihre Macht zu wirklicher Veränderung. Tiden går ist eine fiktive Geschichte, die in dokumentarischem Stil gedreht wurde.
ANE HJORT GUTTU (*1971) ist eine Künstlerin, die in Oslo lebt. Sie arbeitet in unterschiedlichen Medien und hat sich in den letzten Jahren vermehrt auf Film und Video konzentriert; von investigativen Dokumentationen bis hin zu poetischen Fiktionen. Ihre Arbeiten enthalten oft Formen von Machtanalyse, gleich ob diese Macht in Schulen, der urbanen Umgebung oder Kulturinstitutionen zeigt. Das politische Potenzial von Kunst und Künstler*innen ist ein wiederkehrendes Thema von Guttus Arbeit. Darüber hinaus ist sie als Kuratorin und Autorin tätig und Professorin an der Kunsthochschule Oslo. www.anehjortguttu.net
Regie / Produktion / Drehbuch: Ane Hjort Guttu
Mit: Damla Kilickiran / Halvor Haugen / Bianca Linu / Johan Carlsson
Ausführende Produzentin: Elisabeth Kleppe
Koproduktion: Bergen kunsthall
Kamera: Cecilie Semec FNF
Ton: Øyvind Rydland
Redaktion: Jon Endre Mørk
Tonbearbeitung: Rune Baggerud
Musik: Knut Olaf Sunde
Postproduktion: Christian Berg-Nielsen / Sement & Betong
In Auftrag gegeben von: Bergen Kunsthall, Lorck Schive Art Prize, South London Gallery
Unterstützt von Bergen Kunsthall, Vestnorsk Filmfond, Fond for lyd og bilde, Norsk kulturråd, Lorck Schive Art Prize, Free Speech Foundation, South London Gallery, Billedkunstnernes Vederlagsfond, Norwegian Photographic Fund
46 Min.
Norwegisch (u. a.) mit englischen Untertiteln
The Real Office im Gespräch mit Ane Hjort Guttu
In Deiner Arbeit sehen wir all die Spannungen innerhalb sozial engagierter Kunst, Community-Projekten, politischer oder aktivistischer Kunst, aber auch Reibungspunkte zu einer formalistischeren l’art pour l’art-Position. Was war der Grundgedanke, als Du das Filmprojekt begonnen hast?
Ich war selbst Kunststudentin und begann nach meinem Abschluss, an Kunstschulen zu unterrichten. Also habe ich eine enge Beziehung zu Kunstschulen und den verschiedenen Typen von Studierenden und künstlerischen Strategien, die man nach einer Weile sofort erkennt. Meiner Erfahrung nach engagieren sich die meisten Studierenden entweder direkt politisch oder sozial oder sie ziehen sich zurück in eine autonome Ethik oder einen Formalismus und bezeichnen das als eine andere Art, politisch zu sein. Die meisten Kunststudierenden tun sich mit der Vorstellung schwer, dass sie nicht wirklich einen Beitrag leisten, im politischen Sinn nicht wirklich ‚nützlich‘ sind.
Die Idee für den Film entstand im Vorbeigehen an Bettelnden und der Frage, was man tun könne: man kann weitergehen und nichts geben oder man kann etwas geben – aber auf jeden Fall fühlt man sich schlecht. Das artikuliert die Protagonistin Damla im Film. Ich habe darüber nachgedacht, ob es einen ‚dritten Weg‘ gäbe, damit umzugehen. Zum Beispiel könnte man sich neben die Person setzen und dadurch Solidarität oder Gleichheit demonstrieren. Aber wer könnte so etwas tatsächlich tun? Vielleicht ein*e Kunststudent*in? Ich selbst würde es nicht tun, aber ich denke, dass ein idealistischerer, jüngerer, nicht so gefestigter Charakter ein solches Projekt angehen könnte. Das war die Ausgangsidee des Films Time Passes. Mich interessiert die Idee eines dritten Weges; wie Künstler*innen in ausweglosen Situationen navigieren können, in Situationen, in denen sie scheinbar nur sehr begrenzte Möglichkeiten haben. Ein*e Künstler*in ist in der Lage, über alternative Strategien nachzudenken oder einen anderen Weg zu finden.
Es ist wirklich interessant, dass Du, um diese Thematik zu behandeln, ein Kunstprojekt erfunden hast, das sowohl der Realität als auch Projekten, die tatsächlich an Kunsthochschulen initiiert wurden, so nahe kommt.
Ich habe versucht, es sehr realistisch zu machen, und natürlich denken viele Leute, dass es ein Dokumentarfilm sei. Ich möchte nicht so tun, als wäre es ein Dokumentarfilm, normalerweise sage ich den Leuten, dass es Fiktion ist. Einige sind dann sehr enttäuscht, sie scheinen sich wirklich zu wünschen, dass dieses Projekt passiert wäre.
Das führt zurück zur Idee des ‚dritten Weges‘ und zur Frage, ob es einen Ausweg abseits etablierter künstlerischer Praktiken gibt. Der Film scheint zu reflektieren, was Kunst in solchen Situationen erreichen kann oder nicht. Wenn wir die Entwicklung von Damla und ihrer künstlerischen bzw. sozialen Praxis im Verlauf der Geschichte in Betracht ziehen, wird damit die Praxis der Kunstschulen stark in Frage gestellt. Aber Künstler*innen werden immer noch von Kritiker*innen, Kunstschulen und dem allgemeinen Diskurs über Kunst beeinflusst – wo siehst Du die Möglichkeit einer sozialen und politischen Relevanz von Kunst zwischen diesen bestimmenden Faktoren?
Die Schlussfolgerung im Film ist, dass Damla ihre Arbeit nicht zeigen kann. Beziehungsweise weigert sie sich, ihre Arbeit zu zeigen, weil es sich ihrer Freundin Bianca gegenüber nicht richtig anfühlt. Sie steht also wieder vor einer Wahl mit zwei Optionen: die Arbeit zeigen oder nicht. Mein Glück war, eine dritte Option zu haben; nämlich ihre Arbeit durch meinen Film zu zeigen. Ich mag diese Dreieckssdynamik. In einer Szene diskutiert die Studierendengruppe Breugels Gemälde Landschaft mit dem Sturz des Ikarus. Und dieses Gemälde sowie W.H. Audens Gedicht darüber enthalten den gleichen dreieckigen Aufbau: Es gibt die Leidenden und dann die Menschen, die die Leidenden nicht sehen. Aber es gibt auch ein drittes Auge, nämlich das Auge des Künstlers: den Künstler, der das ganze Bild sieht. Er sieht den ertrinkenden Ikarus sowie den Pflüger und alle anderen. Er kann alles malen. Vielleicht sehe ich mich in diesem Film als Breugel, bescheiden wie ich bin; Ich kann all die kleinen Kämpfe sehen und sie sogar zur Darstellung bringen.
Ich denke gerade an den Teil von Peter Bürgers Theorie der Avantgarde, wo er beschreibt, dass das Scheitern der Verschmelzung von Kunst und Leben – ein wesentliches Anliegen der Avantgarde-Künstler*innen – an deren Rahmung als Kunst liegt. Mit diesem Film hast Du es irgendwie geschafft, dieses Scheitern zu überbrücken: Damla scheiterte daran, das Kunstwerk so zu machen, wie sie es wollte, weil eine idealistische Vorstellung davon, wie Kunst die Wirklichkeit beeinflusst, dahinter steht. Aber durch Deine Erzählung, die ihr Scheitern darstellt, wird es plötzlich möglich, auch die Arbeit zu zeigen. Vielleicht ist das ein Konflikt, mit dem sich Kunst, die politisch ‚direkter‘ arbeitet, nicht befassen kann?
Das ist großartig, das nehme ich mit. Ich würde niemals ein Kunstprojekt wie das von Damla machen, es ist in vielerlei Hinsicht problematisch. Nicht nur ihr Projekt, das zumindest nicht existiert, sondern all diese Projekte, die versuchen, Bettelnde in die Galerie zu bringen oder was auch immer. Ich denke, wir müssen auf andere und komplexere Weise damit umgehen.
Wie nimmst Du nach diesem Film die angebliche Inklusivität des Kunstsektors wahr, die fortwährend behauptet wird? Hat er Deine Sicht auf Privilegien in der Kunstwelt oder auf die Möglichkeiten der Arbeit mit marginalisierten Gruppen und die von Kunstinstitutionen behaupteten Offenheit ihnen gegenüber geändert?
Als Künstler*in ist man in einer schwierigen Lage: man weiß, dass man in der falschen Klasse und im falschen System ist. Die natürliche Schlussfolgerung sollte sein, etwas anderes zu tun, weil man nicht die Menschen erreicht, die man erreichen sollte. Gleichzeitig halte ich Kunst immer noch für wichtig. Ich versuche, Kunst nicht als dieses enge Feld der ‚zeitgenössischen bildenden Kunst‘ zu sehen, sondern eher als ‚die Künste‘: dazu gehören Musik, Film, Theater, sogar Schlaflieder und Höhlenmalereien; Kunst, die ein wesentlicher Bestandteil aller menschlichen Gesellschaften war und ist. Selbst wenn meine Kunst zu diesem engen Feld gehört, ist sie dennoch ein Beitrag zum großartigen System des menschlichen Ausdrucks, das ich für notwendig halte und ohne das wir nicht leben können. Jede*r Künstler*in hat eine eigene Stimme, die nur das ausdrücken kann, was sie oder er weiß, und jemand anderes kann etwas anderes ausdrücken. Darum muss es einfach viele Stimmen geben. Das eigentliche Problem besteht also in der Repräsentation: Wessen Stimmen sind zu hören? Das ist aber das Problem der Ungleichheit im Allgemeinen: Die Welt ist ungleich und die Kunstwelt spiegelt diese Ungleichheit natürlich auch wider.
Wie würdest Du Deine eigene Situation nach der Arbeit an diesem Projekt beschreiben? Hat es Deine Wahrnehmung der eigenen Arbeit verändert? Hat es Deine Arbeitsweise beeinflusst?
Es gab viele ästhetische Fragen, die wichtig geworden sind: zum Beispiel, wie man Schauspieler*innen einbezieht; oder nicht wirklich Schauspieler*innen, aber Menschen, die sich mehr oder weniger selbst spielen, Schüler*innen, Lehrer*innen, Bettler*innen. Das war eine interessante Erfahrung, dass Menschen gut spielen, wenn sie sich selbst spielen. Für mich ist es jetzt schwieriger, mit professionellen Schauspieler*innen zu arbeiten
Und dann gibt es diesen Konflikt zwischen Damla und Johan (dem Maler) in Bezug auf die künstlerische Praxis. Es war mir wichtig, beide Positionen darzulegen, ohne moralistisch zu werden: Ich kann beide verstehen. Mir wurde klar, dass ich nicht unbedingt eine Position wählen oder Stellung beziehen muss. Das war nützlich.
Das gesamte Umfeld der Kunstschule war für mich sehr wichtig. Ich habe kürzlich europäische Kunstschulen erkundet und wie sie sich in den letzten zehn Jahren verändert haben, durch einen neuen Film und im Schreiben. So viele Kunstschulen scheinen in neue Gebäude mit einer völlig von Unternehmen geprägten, neoliberalen Architektur umgezogen zu sein. Und ich denke, diese Fragen, was in der Kunstschule passieren kann und wie Architektur zum künstlerischen Schaffen beiträgt, habe ich von Time Passes weitergetragen.
Levin goes lightly, Nightclubbing, 2017 / Liebhaber, 2021
Mise-en-abyme? Gleich dieser Technik des Bilds im Bild benutzt Levin goes Lightly rekursive Wiederholungen – nicht mehr allein emblematischer Symbole, sondern auch pop-kultureller Topoi – in der Video-Collage zu seiner Coverversion von Iggy Pops Nightclubbing. Der Film im Film vermischt Vergangenheit und Gegenwart, Original und Hommage. Vor allem jetzt, wo aufgrund der Schließung aller Clubs zur Einschränkung der Corona-Pandemie Ausgehen und Nachtleben nur noch als bloße Erinnerung existieren, löst der Song Sehnsucht aus. Coverversionen können eine eigene Form der Liebeserklärung sein, können über individuelle Vorlieben und Erfahrungen Aufschluss geben. Oder über Wünsche und Sehnsüchte – etwa, dass Nicht-Zeitgenossen unsere Weggefährten sein mögen.
Wie eine Mise-en-abyme zeigt sich Levin goes Lightly in fast allen seinen Videos und den zugehörigen Songs auch selbst, insofern sowohl seine Texte als auch die betonte Inszenierung der ständigen Selbstinszenierung das Auffächern des eigenen Selbst thematisieren. Zwar zeigt sich der Musiker in seinen Videos androgyn und queer; doch seine Rolle bleibt dabei ebenso diffus und vielfältig wie die musikalischen Referenzen.
Der Song Liebhaber erscheint im Herbst 2021 auf dem kommenden Album und ist nur für dieses Wochenende vorab hier zu hören.
Nightclubbing
Video: Levin Stadler
Songwriting: Iggy Pop, David Bowie
Song Produktion: Paul Schwarz, Levin Stadler, Thomas Zehnle
Mastering: Thomas Zehnle
Liebhaber
Video: Wade Phul, Levin Stadler, Bigi Ozelot
Songwriting: Levin Stadler
Drums: Paul Schwarz
Guitar: Thomas Zehnle
Song Produktion: Paul Schwarz, Thomas Zehnle
Mixing: Philipp Janzen
Borjana Ventzislavova, Und der Himmel klärt sich auf (MAGIC RESISTANCE), 2018
Und der Himmel klärt sich auf (MAGIC RESISTANCE), 2018
Fünf Protagonist*innen führen künstlerisch-magische Rituale an verschiedenen Orten in Wien durch, die in Bezug zu konkreten historischen Ereignissen und Orten aus der NS-Vergangenheit stehen, aber auch heute eine wichtige Rolle spielen. In der Anwendung verschiedener künstlerisch-magischer Prozesse versucht die Arbeit gegen die gegenwärtigen rechtspopulistischen Geister in der westlichen Hemisphäre vorzugehen. Und der Himmel klärt sich auf (MAGIC RESISTANCE) ist ein visuelles Plädoyer: In einzelnen Zeremonien, die weder aus dogmatischen Normen noch aus offiziellen Religionen stammen, sondern abstrahierte künstlerische Interventionen darstellen, versuchen die Protagonist*innen Heilung, Ermächtigung und Solidarität zu erlangen. Sowohl die Stadt Wien als auch Österreich als Staat sind nichts als Beispiele aus einer Vielzahl anderer Orte, an denen rechtspopulistische Tendenzen und Politik heutzutage die globale Landschaft prägen.
BORJANA VENTZISLAVOVA (*1976) arbeitet als Künstlerin interdisziplinär in den Bereichen Fotografie, Film/Video, Installation, Performance und Medienkunst. Ihre Arbeiten wurden in Einzel- und Gruppenausstellungen ausgestellt und waren Teil von vielen Medienkunst- und Filmfestivals. Sie wurde in Sofia geboren, lebt und arbeitet in Wien. www.borjana.net
Regie / Produktion / Schnitt: Borjana Ventzislavova
Mit: Songül Boyraz, Renée Gadsden, Esra Emine Demir, Maruša Sagadin, Claudia Slanar
Kamera: Hannes Böck
Ton: Kai-Maier Rothe
Text: Ovid Pop
Voiceover: Susanne Schuda
Produziert im Rahmen von: Exiled Gaze / Der exilierte Blick
16 Min.
Deutsch mit englischen Untertiteln
„wach bleiben / es nicht außer Acht lassen / hinter der Fassade / hinter den Mauern / die Klasse ballt sich zusammen wie Quecksilber / wach bleiben / es mit unseren Haaren heilen / diese kranke Stelle / diesen Hang zur Vorherrschaft / diesen bedingungslosen Anspruch auf den anderen / als wäre der andere nicht unsere ferne Stütze“
Die Textebene ist weder Narration noch Erklärung zu den Geschehnissen im Film, vielmehr rahmt der zum Film entstandene Text Ovid Pop diese und stellt poetische Behauptungen und Fragen in den Raum. Doch was genau sollte hier nicht „außer Acht“ gelassen werden?
Die Arbeit zeigt Orte österreichischer Geschichte und Politik, des aktuellen politischen Lebens sowie historisch signifikante Plätze am Wiener Ring, die Teil der Route von Hitlers „Triumphzug“ 1938 waren oder den Altan der Hofburg, welcher seit diesem Jahr unauflösbar mit der Rede zum „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich verknüpft ist und der am Ende des Filmes durch Esra Emine Demirs performative Handlung dekontaminiert wird. Weitere Schauplätze sind etwa Orte im zweiten und dritten Bezirk, an denen während des Nationalsozialismus Jüd*innen öffentlich gedemütigt wurden.
Wien steht dabei jedoch nur beispielhaft für viele Städte, Regionen, Länder weltweit, an denen verdrängte Geschichte und aktuelle rechtspopulistische Tendenzen präsent sind und sich überlagern.
Im Film And the Sky Clears Up (MAGIC RESISTANCE) treten fünf Frauen als Protagonist*innen auf, jede Einzelne vollzieht ein künstlerisches Ritual, um die ‚Geister der Vergangenheit‘ historisch belasteter Orte sowie den Spuk des aktuellen, rechts-populistisch geprägten politischen Geschehens zu vertreiben. Die Zusammenarbeit zwischen Borjana Ventzislavova und den Performer*innen gestaltete sich individuell sehr unterschiedlich – einige setzten genaue Anweisungen der Filmemacherin um, andere brachten eigenständige Performances ein, haben diese dann gemeinsam in Bezug auf die vorgegebenen Instrumente und Gegenstände weiterentwickelt und teilweise sehr spontan darauf reagiert. Diese graduelle, teils sehr intuitive Form von Partizipation und Kooperation drückt sich in den ganz unterschiedlichen rituellen Handlungen aus, die im Kontrast zu den monumentalen Plätzen und Bauten oder der gewaltigen Donau als leise, teils zärtliche, ephemere Interventionen auffallen. Die Rituale lassen verschiedene Referenzen erkennen wie Voodoo-Praktiken oder Traditionen indigener Kulturen. Borjana Ventzislavova übersetzt diese, ebenso wie Bräuche, die ihr aus ihrer Kindheit in Bulgarien geläufig sind, in ihre eigene künstlerische Sprache und transformiert ihre Bezüge zu neuen, universellen Handlungen.
In der Darstellung dieses künstlerischen Zusammenschlusses stellt der Film der bestehenden Repräsentation von Kultur und Staatlichkeit eine kulturell vielseitige und offene, weibliche und lebendige Sphäre entgegen, in welcher Magie, Ritual und Aberglaube als Techniken gegen die rationalistische Übermacht aufbegehren. Da diese sich längst entfernt hat vom Ideal, vernünftige Entscheidungen zum Wohl aller zu treffen, können plötzlich wieder ältere Wissensformen den Kampf mit ihr aufnehmen und ihr ebenbürtig sein.
„Wach bleiben“, „heilen“: die Möglichkeiten dazu, die And the Sky Clears Up (MAGIC RESISTANCE) aufzeigt, scheinen für Betrachter*innen erst einmal absurd – und doch könnten die Rituale etwas bewirken: als sie die Arbeit im Salzburger Kunstverein zeigte, musste zeitgleich die österreichische Regierung aufgrund des Ibiza-Skandals zurücktreten, erklärt die Künstlerin mit einem Augenzwinkern.
DeLorea Pontiac, Spintop, 2020 | Horizon, 2019
Hyperaktive Melancholie treibt DeLorea Pontiac in ein magisches Wunderland, in dem sie ihren Eskapismus-Sound kreiert. Inspiriert von eingängigen Popmelodien der 80er Jahre, dem Kitsch des 90er-Dream-Trance und der Schwermut von Dark Wave, beschließt sie, die Grenzen dieser Genres zu erweitern. Derzeit lebt die multidisziplinäre Künstlerin in Leipzig und produziert Musik und Videos hauptsächlich in ihrem Wohnzimmer. www.deloreapontiac.bandcamp.com
Spintop
Regie / Produktion: DeLorea Pontiac
Performerinnen: DeLorea Pontiac, Elisa Maria Zeisler
Kamera und Licht: Andreas Musall
Outfits: DeLorea Pontiac
Songwriting / Produktion and Mixing: DeLorea Pontiac
Mastering: Enyang Urbiks
Horizon
Konzept / Produktion: DeLorea Pontiac
Kamera: Foad Tauil
Songwriting & Production: DeLorea Pontiac
Mastering: Max Rieger
The Real Office im Gespräch mit DeLorea Pontiac
Das Video ist viel düsterer als Deine älteren Arbeiten, dazu trägt auch die brutalistische menschenleere Architektur bei. Wo habt Ihr das gedreht, was ist das für ein Ort?
Die Szenen in dem ruinenartigen Setting wurden in dem ehemaligen, vermutlich Ende des 15. Jahrhunderts gegründeten, Zinnbergwerk Rolava im Westen Tschechiens gedreht. Tagsüber ist der Ort ein beliebtes Ausflugsziel und wirkt auch weitaus weniger dystopisch als in meinem Video. Als es auch mich mal dahin verschlagen hat, wollte ich dort sofort was drehen. Während ich Spintop geschrieben habe, wusste ich recht schnell, dass es der passende Song für die Location ist. Richtig über den Ort recherchiert habe ich erst kurz vor dem Dreh, als schon alles geplant war. Dann habe ich herausgefunden, dass dort im 2. Weltkrieg Kriegsgefangene und Ostarbeiter ausgebeutet wurden. Das hat mich ziemlich verunsichert und ich habe mir viele Gedanken gemacht, ob ich dort überhaupt drehen sollte. Ich habe mich dann dazu entschlossen trotzdem zu drehen da der Song thematisch auch eher düster ist und ich denke, das vertreten zu können. Beim Dreh waren wir nur zu dritt und das war schon verdammt gruselig dort mitten in der Nacht.
„I have no time...“ Was bedeutet Zeit für Dich im Kontext dieses Songs?
Ich habe eigentlich immer das Gefühl, dass der Tag zu wenige Stunden hat und mir die Zeit davonrennt, weil ich viel mehr machen möchte, als realistisch betrachtet in einem gewissen Zeitrahmen möglich ist. Dieses ständige, von mir als sehr ungesund wahrgenommene, Gefühl, produktiv sein zu müssen ist eigentlich immer und überall präsent. Genau darum geht es in dem Song – um die Selbstausbeutung in unserer kapitalistisch geprägten Gesellschaft, der man sich ständig unterwirft, um eine Illusion des ‚Funktionierens‘ aufrecht zu erhalten. Der Song beschreibt auf sarkastische Art und Weise den Alltag einer nahezu zur Maschine gewordenen Person, die in Workaholic-Manier jede Sekunde dazu nutzt, Output und somit Selbstwertgefühl zu produzieren und hinterfragt/kritisiert dieses Verhaltensmuster durch Phrasen wie „I need to fill the void, and so i choose obsession“. In gewisser Weise fühle ich mich mit dieser Person sehr verbunden.
Immer wieder spielt Deine Musik, dazugehörig die Visuals, die Du bei Auftritten zeigst und auch Deine Videos mit unterschiedlichen 'Retro-Ästhetiken' (alte Videogames, Super-8-Look, Zwischentitel wie aus den Nullerjahren, Eurodance, 80er-Wave, etc.). Wie (bewusst) verwendest und vermischst Du diese Referenzen in Sound und Visuals?
Viele Leute verbinden die aufgezählten Ästhetiken mit Trash und überzogenem Kitsch, ich empfinde sie einfach als wunderschön. Sie funktionieren für mich auch als eine Art Rauschmittel. Wenn ich Musik und Visuals mache, greife ich sie ganz automatisch auf, um mich in einen Zustand von kurzzeitiger Euphorie zu versetzen – das passiert einfach. Allerdings kommt dann recht schnell das Bewusste ins Spiel, dann hinterfrage ich den künstlichen Glanz des Rausches und dessen Vergänglichkeit, die sich meiner Meinung nach besonders stark in diesen stilistischen Erscheinungsbildern widerspiegelt und ich werde etwas traurig und fange an, sie zu dekonstruieren. Deshalb haben meine Songs meistens auch einen sehr melancholischen, manchmal düsteren Touch.
In Horizon nutzt Du sehr explizit die Klischees von ‚coolen Karren und sexy Girls‘, die, obwohl sie als längst überholt gelten, immer noch in vielen Köpfen – auch in dieser Kombination – fest verankert sind. Auch der Name DeLorea Pontiac spielt damit, oder? Wie kamst Du auf diese Themen, die ja in dieser Form der Darstellung tendenziell eher von Männern genutzt werden?
Als der Name DeLorea Pontiac entstanden ist, hatte ich keine Fahrerlaubnis und dachte auch nicht, dass sich das jemals ändern würde. Für mich war Autofahren eher so eine Fantasie und ich hatte diese total überromantisierte Highway-Obsession und habe mir beim Musikmachen oft vorgestellt, wie ich nachts auf Autobahnen fahre, die aussehen wie in Neon Drive. Außerdem fand und finde ich (alte) Autos als simple Objekte, losgelöst von ihrer negativen Bedeutung für Mensch und Umwelt, einfach schön und sexy. Ich glaube, ich fand es auch ein bisschen lustig, mich wie zwei Autos zu nennen und mochte die prollige Kombi. Das ist zwar auch nichts Neues, aber ich sehe es schon als feministischen Akt, bewusst mit diesen Bildern und Wirkungen zu spielen und denke es schließt sich nicht aus, sexy Material zu produzieren und gleichzeitig Sexismen zu kritisieren.
Ich selbst sehe meine manchmal softporn-artige Ästhetik zwar als ernstzunehmende künstlerische Ausdrucksform, aber gleichzeitig vor allem auch als kritische Karikatur von den oben genannten Klischees. Der oft auch slapstickhafte Stil in Verbindung mit meinem Namen sollte doch erahnen lassen, dass meine Videos durchaus als Versuch gesehen werden können, diese Klischees auch durch humoristische Überspitzung zu hinterfragen und zu dekonstruieren.
Die Brüche in dem, wie Du Kinks und Sexyness präsentierst, zeigen, wie standardisiert Formen von Fetisch und Sexualität heute oft sind, obwohl sie eigentlich Ausdruck des Nicht-Normativen, Devianten, Queeren sein sollten/wollen. Wie stehst Du zu dieser Entwicklung, die versucht alles – gerade Queerness und Underground – in den Mainstream zu integrieren? Sind Deine Songs vor diesem Hintergrund auch gefährdet, anders interpretiert zu werden?
Ich stehe natürlich kritisch zu dieser Entwicklung. Wenn Ästhetiken und visuelle Ausdrucksformen von marginalisierten Gruppen (in dem Fall von queeren Menschen, Menschen, die Fetische bewusst ausleben) kopiert werden und im Mainstream Anerkennung und Hype erlangen, die Menschen, die diesen Stil jedoch geprägt haben, aber nach wie vor diskriminiert werden, läuft so ziemlich alles schief. Und leider ist es in der Regel genau so.
Natürlich adaptiere auch ich ganz offensichtlich Stilmittel aus diesen Subkulturen, doch da ich mich selbst als queer identifiziere und auch der Fetischbereich mir nicht fremd ist, stehe ich bewusst hinter dieser Ästhetik als Ausdrucksmittel meiner Persönlichkeit.
Giorgi Gago Gagoshidze, Die unsichtbare Hand meines Vaters, 2018
Die unsichtbare Hand meines Vaters
Giorgi Gago Gagoshidze erzählt in seinem Film in einer Mischung aus Drohnen-Bildaufnahmen, 3-D-Animation und Interviews die Geschichte seines Vaters, der als Gastarbeiter in Portugal seine Hand bei einem Arbeitsunfall verlor. In der filmischen Gegenwart lebt der Vater wieder als Landwirt in seiner Heimat – seine verlorene Hand existiert eigenständig weiter fort und arbeitet für ihren Besitzer, indem sie seinen Lebensunterhalt durch eine Invalidenrente sichert.
GIORGI GAGO GAGOSHIDZE (* 1983) ist Künstler und Filmemacher. Im Mittelpunkt seiner Praxis steht das bewegte Bild, insbesondere die politischen Aspekte seiner Produktion und seine gesellschaftspolitischen Kontexte. Gagoshidze wurde in Georgien geboren und lebt in Berlin.
Produziert von Giorgi Gago Gagoshidze
Produktion / Regie / Schnitt / Drehbuch: Giorgi Gago Gagoshidze
Mit: Nugzar Gagoshidze
Musik: John Adams, Arseny Avraamov, Iliko Gogiberishvili, Tim Hecker, Giorgi Koberidze und Mark Pritchard
Ton: Giorgi Koberidze
Recherche mit Unterstützung der Kulturabteilung des Berliner Senats
24 Min.
Englisch und Georgisch mit englischen Untertiteln
The Real Office im Gespräch mit Giorgi Gago Gagoshidze
Der Film beschäftigt sich direkt mit dem Schicksal Deines Vaters und einem Ereignis, das sein Leben prägte. Wie waren der Prozess des Schreibens und Produzierens dieses Films; könntest Du uns auch mehr über die Gespräche mit Deinem Vater erzählen? Hat sich die Perspektive Deines Vaters auf seine Situation nach dem Film verändert?
Obwohl diese Arbeit sich explizit mit dem Schicksal meines Vaters auseinandersetzt, ist es kein Dokumentarfilm über meinen Vater, eher versucht sie seine persönlichen Erfahrungen nicht ins Zentrum zu rücken, um globale geopolitische Veränderungen, welche direkt oder indirekt seinen gesellschaftlichen und physischen Körper geprägt haben, zu kommentieren. Während der Produktion des Films versuchte ich, unterschiedliche visuelle und sprachliche Methoden anzuwenden, um die nötige Distanz zu meinem Vater zu bewahren und so zu vermeiden, dass ein sentimental aufgeladener Film entsteht, der nichts weiter macht, als sein persönliches Trauma auszuschlachten.
Obwohl er mich mit den Interviews und beim Dreh voll unterstützte und vorbehaltlos teilnahm, wollte er sich die finale Version des Films nicht ansehen. Ich schätze, das kann ich verstehen.
Die unterschiedlichen Perspektiven in Deiner Arbeit – Close-Ups, Drohnen, Renderings – beziehen sich auf verschiedene Ebenen der Geschichte. Könntest Du die Wahl der Techniken und wie sie sich auf die Erzählung beziehen erklären?
Der erzählerische Teil des Films ist aus den unterschiedlichen Perspektiven der drei Hauptcharaktere des Films konstruiert: Nugzari (mein Vater), der seine eigene Lebensgeschichte erzählt, die unsichtbare (verlorene) Hand meines Vaters, die ihre Perspektive auf den derzeitigen Zustand des Vaters ‚herauskrampft‘, und ich selbst, der sich die Geschichte als seine Erzählung aneignet und sie umformt, um sie als Kommentar in Form eines Voice-Over zu verwenden. Verschiedene Formen von computergenerierten Bildern (CGI, computer-generated images), Drohnenmaterial und auf Kameraobjektiven basierenden Bildern hängen mit diesen Figuren zusammen.
Für mich war es zum Beispiel wichtig, eine Methode zu finden, wie ich mit der Herausforderung umgehen kann, etwas wie der unsichtbaren Hand von der ich im Film behaupte, dass unklar – und vor unserer Wahrnehmung verborgen – sei, wie sie funktioniert, einen sichtbaren Körper zu geben. Darum dachte ich, dass es Sinn macht ihr Bild digital zu modellieren, als Symbol für etwas, das weder das menschliche Auge sehen noch ein Kameraobjektiv erfassen kann.
Darüber hinaus könnten die Aufnahmen der Drohne als Perspektive der schwebenden Hand wahrgenommen werden, in welcher sich der Film erschließt, während sie sich von der Prothese zur CGI-Hand hochwindet. Der Film endet mit der Sicht einer Drohne auf meinen Vater, der versucht, sie auf den Boden zu bekommen; diese Aktion verwandelt sie zu einem einfachen Mittel der Bilderzeugung.
Die Hand Deines Vaters wird zur symbolischen Figur innerhalb der Erzählung. Was ist der wichtigste Aspekt oder deren Bedeutung für Dich?
Auf der symbolischen Ebene funktioniert der Körper meines Vaters als Karte, auf der man den Wandel politischer Ideologien der letzten Jahrzehnte nachvollziehen kann. Er durchlebte zwei unterschiedliche politische und ökonomische Systeme, vom Sozialismus, der durch die ‚geballte Arbeiter*innenfaust’ charakterisiert wird, zur liberalen Ökonomie, die durch „die unsichtbare Hand des freien Marktes” repräsentiert wird. Der Film ist ein Versuch, die unsichtbare Hand, die mein Vater als Gastarbeiter in Portugal während der Finanzkrise 2008 verlor, zu verfolgen. Dadurch, dass ich das kontextualisieren und untersuchen konnte, versuchte ich die herrschende Logik ‚seiner unsichtbaren Hand’ zu verstehen, die eine neue Form der Arbeit für ihn darstellt und die Ökonomie seiner Familie bestimmt.
An einem bestimmten Moment des Films findet seine verlorene Hand einen Weg durch die liegengelassene Prothese zu betonen, dass selbst wenn wir diese nicht sehen könnten, die Effekte ihrer ‚Nicht-Existenz’ auf ihn und seine Familie nicht zu leugnen seien. Für mich ist dieser Moment sehr wichtig, an dem die verlorene Hand im Film ihre Stimme findet und die Dimension der unsichtbaren Arbeit einführt. Eine Arbeit, die sehr wohl existiert, so viel zur Gesellschaft beiträgt und doch immer unsichtbar bleibt.
Denkst Du, dass die Erzählung dieser Geschichte Einzelnen hilft, die komplexen Abhängigkeiten, denen sie gegenüberstehen, zu entwirren?
Das Erstellen eines Werkkomplexes dient für mich dazu, eine Art Prisma zu konstruieren, das bestimmte Parameter enthält, die dabei helfen, die Stufen und Spuren einer unsichtbaren Menge an ökonomischen und politischen Voraussetzungen, die ein Subjekt formen, zu erklären und zu analysieren. Die Beobachtung ‚unbedeutender‘ und ‚gewöhnlicher‘ Ereignisse durch dieses Prisma sollte Wege erschließen, die es möglichen machen, die Geschichte im Zusammenhang größerer sozialer und politischer Kontexte zu sehen. Zumindest war es das, was ich mit Die unsichtbare Hand meines Vaters versucht habe.
Einführung
Ein Knoten aus sozialer Benachteiligung, Machtstrukturen und ideologisch festgefahrenen Diskursen manifestiert sich in aktuellen Krisen und medial diskutierten Phänomenen. Dieser Komplexität stellen sich oft eindimensionale weltanschauliche Erklärungsmuster entgegen: Ungleichheit und Ungerechtigkeit werden als Teil eines größeren Ganzen hingenommen, vielschichtige Themen auf eine einzige Begründung heruntergebrochen.
Versuchte die zweiteilige Ausstellung Strike Gently Away geradlinige Erzählungen von Geschichte und Herkunft, die Zuordnung von Gender, gesellschaftlichen Rollen und Vorstellungen von Kunst sanft abzustreifen, interessierte uns in der Weiterführung dieser Fragen, wo vielschichtigere Bilder zur eigenen Positionierung ihren Ort haben könnten. Als ergebnisoffene kuratorische Forschung initiiert, führt ORBIT Stränge der vergangenen Ausstellungen von THE REAL OFFICE weiter mit Kunstprojekten, die Ansatzpunkte bieten, komplexe Probleme wie Arbeitsmigration oder Diskriminierung zu kontextualisieren und als organisches Ganzes zu betrachten. Der vor den aktuellen Einschränkungen für Veranstaltungen gefasste Plan sah ein Event an einem Tag vor, bei dem die Arbeiten gemeinsam mit Künstler*innen und dem Publikum in kleinen Runden diskutiert und auch unsere Auswahlprozesse für Ausstellungen thematisiert werden würden. Ein weiteres Anliegen war die Ausdehnung dessen, was in einer Ausstellung seine ‚Daseinsberechtigung‘ hat: etwa Strategien aus der Popmusik, die sich ebenso mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen auseinandersetzen, wenn auch auf andere Weise als bildende und darstellende Künste. Diese Kombination konnten wir auch in unserem Onlineformat realisieren. Für ein Wochenende zeigen wir eine Auswahl von Musikvideos und Videoarbeiten, die konkrete Auswirkungen globaler Dynamiken auf Einzelne in Bilder und Musik übersetzen. Die Frage nach den Strukturen und den Beziehungen, in denen wir uns bewegen und die uns beeinflussen, ist dabei immer essenziell: als Erbe, als Erwartung oder als Institution.
Ebenso, wie die gezeigten Arbeiten nicht als Antworten gelesen werden sollten, ist auch ORBIT als Ganzes lediglich ein Versuch in einem Diskursgeflecht, das intersektionale, vernetzte Theorien vorzieht. Da Eindimensionalität und einfache Erklärungen oft als Ausweg aus diesen komplexen Mustern angesehen werden – und wir oftmals in die Falle tappen, selbst ebensolche geradlinigen Gegennarrative zu entwerfen –, ist es wichtig, dass in den gewählten Arbeiten keine Eindeutigkeit hergestellt wird, sondern wir die Komplexität entgegenstehender (Inter-)Aktionen nachvollziehen können. ORBIT verfolgt deren Umlaufbahn, die zwischen Anziehungskraft und freiem Fall entsteht: Während die Eindeutigkeit der Narration verschwindet, bestimmen all die auseinanderdriftenden Faktoren ein Zentrum und dessen ORBIT.
Videos online: 9. — 10. Januar 2021
Ane Hjort Guttu, Tiden går / Time Passes, 2015
Tiden går / Time Passes
Die junge Kunststudentin Damla schließt sich als Teil ihres Kunstprojektes einer jungen Roma zum Betteln auf der Straße an. Ihre Versuche, Aufmerksamkeit auf die soziale und wirtschaftliche Misere der Obdachlosen zu lenken, bringen sie, nachdem sie an der Kunsthochschule von Kolleg*innen und Dozent*innen kritisiert wird, dazu, infrage zu stellen, woran sie glaubt und was für sie Identität und Kunst bedeuten. Ane Hjort Guttus Film hinterfragt das Verhältnis von Kunst zu Politik und ihre Macht zu wirklicher Veränderung. Tiden går ist eine fiktive Geschichte, die in dokumentarischem Stil gedreht wurde.
ANE HJORT GUTTU (*1971) ist eine Künstlerin, die in Oslo lebt. Sie arbeitet in unterschiedlichen Medien und hat sich in den letzten Jahren vermehrt auf Film und Video konzentriert; von investigativen Dokumentationen bis hin zu poetischen Fiktionen. Ihre Arbeiten enthalten oft Formen von Machtanalyse, gleich ob diese Macht in Schulen, der urbanen Umgebung oder Kulturinstitutionen zeigt. Das politische Potenzial von Kunst und Künstler*innen ist ein wiederkehrendes Thema von Guttus Arbeit. Darüber hinaus ist sie als Kuratorin und Autorin tätig und Professorin an der Kunsthochschule Oslo. www.anehjortguttu.net
Regie / Produktion / Drehbuch: Ane Hjort Guttu
Mit: Damla Kilickiran / Halvor Haugen / Bianca Linu / Johan Carlsson
Ausführende Produzentin: Elisabeth Kleppe
Koproduktion: Bergen kunsthall
Kamera: Cecilie Semec FNF
Ton: Øyvind Rydland
Redaktion: Jon Endre Mørk
Tonbearbeitung: Rune Baggerud
Musik: Knut Olaf Sunde
Postproduktion: Christian Berg-Nielsen / Sement & Betong
In Auftrag gegeben von: Bergen Kunsthall, Lorck Schive Art Prize, South London Gallery
Unterstützt von Bergen Kunsthall, Vestnorsk Filmfond, Fond for lyd og bilde, Norsk kulturråd, Lorck Schive Art Prize, Free Speech Foundation, South London Gallery, Billedkunstnernes Vederlagsfond, Norwegian Photographic Fund
46 Min.
Norwegisch (u. a.) mit englischen Untertiteln
The Real Office im Gespräch mit Ane Hjort Guttu
In Deiner Arbeit sehen wir all die Spannungen innerhalb sozial engagierter Kunst, Community-Projekten, politischer oder aktivistischer Kunst, aber auch Reibungspunkte zu einer formalistischeren l’art pour l’art-Position. Was war der Grundgedanke, als Du das Filmprojekt begonnen hast?
Ich war selbst Kunststudentin und begann nach meinem Abschluss, an Kunstschulen zu unterrichten. Also habe ich eine enge Beziehung zu Kunstschulen und den verschiedenen Typen von Studierenden und künstlerischen Strategien, die man nach einer Weile sofort erkennt. Meiner Erfahrung nach engagieren sich die meisten Studierenden entweder direkt politisch oder sozial oder sie ziehen sich zurück in eine autonome Ethik oder einen Formalismus und bezeichnen das als eine andere Art, politisch zu sein. Die meisten Kunststudierenden tun sich mit der Vorstellung schwer, dass sie nicht wirklich einen Beitrag leisten, im politischen Sinn nicht wirklich ‚nützlich‘ sind.
Die Idee für den Film entstand im Vorbeigehen an Bettelnden und der Frage, was man tun könne: man kann weitergehen und nichts geben oder man kann etwas geben – aber auf jeden Fall fühlt man sich schlecht. Das artikuliert die Protagonistin Damla im Film. Ich habe darüber nachgedacht, ob es einen ‚dritten Weg‘ gäbe, damit umzugehen. Zum Beispiel könnte man sich neben die Person setzen und dadurch Solidarität oder Gleichheit demonstrieren. Aber wer könnte so etwas tatsächlich tun? Vielleicht ein*e Kunststudent*in? Ich selbst würde es nicht tun, aber ich denke, dass ein idealistischerer, jüngerer, nicht so gefestigter Charakter ein solches Projekt angehen könnte. Das war die Ausgangsidee des Films Time Passes. Mich interessiert die Idee eines dritten Weges; wie Künstler*innen in ausweglosen Situationen navigieren können, in Situationen, in denen sie scheinbar nur sehr begrenzte Möglichkeiten haben. Ein*e Künstler*in ist in der Lage, über alternative Strategien nachzudenken oder einen anderen Weg zu finden.
Es ist wirklich interessant, dass Du, um diese Thematik zu behandeln, ein Kunstprojekt erfunden hast, das sowohl der Realität als auch Projekten, die tatsächlich an Kunsthochschulen initiiert wurden, so nahe kommt.
Ich habe versucht, es sehr realistisch zu machen, und natürlich denken viele Leute, dass es ein Dokumentarfilm sei. Ich möchte nicht so tun, als wäre es ein Dokumentarfilm, normalerweise sage ich den Leuten, dass es Fiktion ist. Einige sind dann sehr enttäuscht, sie scheinen sich wirklich zu wünschen, dass dieses Projekt passiert wäre.
Das führt zurück zur Idee des ‚dritten Weges‘ und zur Frage, ob es einen Ausweg abseits etablierter künstlerischer Praktiken gibt. Der Film scheint zu reflektieren, was Kunst in solchen Situationen erreichen kann oder nicht. Wenn wir die Entwicklung von Damla und ihrer künstlerischen bzw. sozialen Praxis im Verlauf der Geschichte in Betracht ziehen, wird damit die Praxis der Kunstschulen stark in Frage gestellt. Aber Künstler*innen werden immer noch von Kritiker*innen, Kunstschulen und dem allgemeinen Diskurs über Kunst beeinflusst – wo siehst Du die Möglichkeit einer sozialen und politischen Relevanz von Kunst zwischen diesen bestimmenden Faktoren?
Die Schlussfolgerung im Film ist, dass Damla ihre Arbeit nicht zeigen kann. Beziehungsweise weigert sie sich, ihre Arbeit zu zeigen, weil es sich ihrer Freundin Bianca gegenüber nicht richtig anfühlt. Sie steht also wieder vor einer Wahl mit zwei Optionen: die Arbeit zeigen oder nicht. Mein Glück war, eine dritte Option zu haben; nämlich ihre Arbeit durch meinen Film zu zeigen. Ich mag diese Dreieckssdynamik. In einer Szene diskutiert die Studierendengruppe Breugels Gemälde Landschaft mit dem Sturz des Ikarus. Und dieses Gemälde sowie W.H. Audens Gedicht darüber enthalten den gleichen dreieckigen Aufbau: Es gibt die Leidenden und dann die Menschen, die die Leidenden nicht sehen. Aber es gibt auch ein drittes Auge, nämlich das Auge des Künstlers: den Künstler, der das ganze Bild sieht. Er sieht den ertrinkenden Ikarus sowie den Pflüger und alle anderen. Er kann alles malen. Vielleicht sehe ich mich in diesem Film als Breugel, bescheiden wie ich bin; Ich kann all die kleinen Kämpfe sehen und sie sogar zur Darstellung bringen.
Ich denke gerade an den Teil von Peter Bürgers Theorie der Avantgarde, wo er beschreibt, dass das Scheitern der Verschmelzung von Kunst und Leben – ein wesentliches Anliegen der Avantgarde-Künstler*innen – an deren Rahmung als Kunst liegt. Mit diesem Film hast Du es irgendwie geschafft, dieses Scheitern zu überbrücken: Damla scheiterte daran, das Kunstwerk so zu machen, wie sie es wollte, weil eine idealistische Vorstellung davon, wie Kunst die Wirklichkeit beeinflusst, dahinter steht. Aber durch Deine Erzählung, die ihr Scheitern darstellt, wird es plötzlich möglich, auch die Arbeit zu zeigen. Vielleicht ist das ein Konflikt, mit dem sich Kunst, die politisch ‚direkter‘ arbeitet, nicht befassen kann?
Das ist großartig, das nehme ich mit. Ich würde niemals ein Kunstprojekt wie das von Damla machen, es ist in vielerlei Hinsicht problematisch. Nicht nur ihr Projekt, das zumindest nicht existiert, sondern all diese Projekte, die versuchen, Bettelnde in die Galerie zu bringen oder was auch immer. Ich denke, wir müssen auf andere und komplexere Weise damit umgehen.
Wie nimmst Du nach diesem Film die angebliche Inklusivität des Kunstsektors wahr, die fortwährend behauptet wird? Hat er Deine Sicht auf Privilegien in der Kunstwelt oder auf die Möglichkeiten der Arbeit mit marginalisierten Gruppen und die von Kunstinstitutionen behaupteten Offenheit ihnen gegenüber geändert?
Als Künstler*in ist man in einer schwierigen Lage: man weiß, dass man in der falschen Klasse und im falschen System ist. Die natürliche Schlussfolgerung sollte sein, etwas anderes zu tun, weil man nicht die Menschen erreicht, die man erreichen sollte. Gleichzeitig halte ich Kunst immer noch für wichtig. Ich versuche, Kunst nicht als dieses enge Feld der ‚zeitgenössischen bildenden Kunst‘ zu sehen, sondern eher als ‚die Künste‘: dazu gehören Musik, Film, Theater, sogar Schlaflieder und Höhlenmalereien; Kunst, die ein wesentlicher Bestandteil aller menschlichen Gesellschaften war und ist. Selbst wenn meine Kunst zu diesem engen Feld gehört, ist sie dennoch ein Beitrag zum großartigen System des menschlichen Ausdrucks, das ich für notwendig halte und ohne das wir nicht leben können. Jede*r Künstler*in hat eine eigene Stimme, die nur das ausdrücken kann, was sie oder er weiß, und jemand anderes kann etwas anderes ausdrücken. Darum muss es einfach viele Stimmen geben. Das eigentliche Problem besteht also in der Repräsentation: Wessen Stimmen sind zu hören? Das ist aber das Problem der Ungleichheit im Allgemeinen: Die Welt ist ungleich und die Kunstwelt spiegelt diese Ungleichheit natürlich auch wider.
Wie würdest Du Deine eigene Situation nach der Arbeit an diesem Projekt beschreiben? Hat es Deine Wahrnehmung der eigenen Arbeit verändert? Hat es Deine Arbeitsweise beeinflusst?
Es gab viele ästhetische Fragen, die wichtig geworden sind: zum Beispiel, wie man Schauspieler*innen einbezieht; oder nicht wirklich Schauspieler*innen, aber Menschen, die sich mehr oder weniger selbst spielen, Schüler*innen, Lehrer*innen, Bettler*innen. Das war eine interessante Erfahrung, dass Menschen gut spielen, wenn sie sich selbst spielen. Für mich ist es jetzt schwieriger, mit professionellen Schauspieler*innen zu arbeiten
Und dann gibt es diesen Konflikt zwischen Damla und Johan (dem Maler) in Bezug auf die künstlerische Praxis. Es war mir wichtig, beide Positionen darzulegen, ohne moralistisch zu werden: Ich kann beide verstehen. Mir wurde klar, dass ich nicht unbedingt eine Position wählen oder Stellung beziehen muss. Das war nützlich.
Das gesamte Umfeld der Kunstschule war für mich sehr wichtig. Ich habe kürzlich europäische Kunstschulen erkundet und wie sie sich in den letzten zehn Jahren verändert haben, durch einen neuen Film und im Schreiben. So viele Kunstschulen scheinen in neue Gebäude mit einer völlig von Unternehmen geprägten, neoliberalen Architektur umgezogen zu sein. Und ich denke, diese Fragen, was in der Kunstschule passieren kann und wie Architektur zum künstlerischen Schaffen beiträgt, habe ich von Time Passes weitergetragen.
Levin goes lightly, Nightclubbing, 2017 / Liebhaber, 2021
Mise-en-abyme? Gleich dieser Technik des Bilds im Bild benutzt Levin goes Lightly rekursive Wiederholungen – nicht mehr allein emblematischer Symbole, sondern auch pop-kultureller Topoi – in der Video-Collage zu seiner Coverversion von Iggy Pops Nightclubbing. Der Film im Film vermischt Vergangenheit und Gegenwart, Original und Hommage. Vor allem jetzt, wo aufgrund der Schließung aller Clubs zur Einschränkung der Corona-Pandemie Ausgehen und Nachtleben nur noch als bloße Erinnerung existieren, löst der Song Sehnsucht aus. Coverversionen können eine eigene Form der Liebeserklärung sein, können über individuelle Vorlieben und Erfahrungen Aufschluss geben. Oder über Wünsche und Sehnsüchte – etwa, dass Nicht-Zeitgenossen unsere Weggefährten sein mögen.
Wie eine Mise-en-abyme zeigt sich Levin goes Lightly in fast allen seinen Videos und den zugehörigen Songs auch selbst, insofern sowohl seine Texte als auch die betonte Inszenierung der ständigen Selbstinszenierung das Auffächern des eigenen Selbst thematisieren. Zwar zeigt sich der Musiker in seinen Videos androgyn und queer; doch seine Rolle bleibt dabei ebenso diffus und vielfältig wie die musikalischen Referenzen.
Der Song Liebhaber erscheint im Herbst 2021 auf dem kommenden Album und ist nur für dieses Wochenende vorab hier zu hören.
Borjana Ventzislavova, Und der Himmel klärt sich auf (MAGIC RESISTANCE), 2018
Und der Himmel klärt sich auf (MAGIC RESISTANCE), 2018
Fünf Protagonist*innen führen künstlerisch-magische Rituale an verschiedenen Orten in Wien durch, die in Bezug zu konkreten historischen Ereignissen und Orten aus der NS-Vergangenheit stehen, aber auch heute eine wichtige Rolle spielen. In der Anwendung verschiedener künstlerisch-magischer Prozesse versucht die Arbeit gegen die gegenwärtigen rechtspopulistischen Geister in der westlichen Hemisphäre vorzugehen. Und der Himmel klärt sich auf (MAGIC RESISTANCE) ist ein visuelles Plädoyer: In einzelnen Zeremonien, die weder aus dogmatischen Normen noch aus offiziellen Religionen stammen, sondern abstrahierte künstlerische Interventionen darstellen, versuchen die Protagonist*innen Heilung, Ermächtigung und Solidarität zu erlangen. Sowohl die Stadt Wien als auch Österreich als Staat sind nichts als Beispiele aus einer Vielzahl anderer Orte, an denen rechtspopulistische Tendenzen und Politik heutzutage die globale Landschaft prägen.
BORJANA VENTZISLAVOVA (*1976) arbeitet als Künstlerin interdisziplinär in den Bereichen Fotografie, Film/Video, Installation, Performance und Medienkunst. Ihre Arbeiten wurden in Einzel- und Gruppenausstellungen ausgestellt und waren Teil von vielen Medienkunst- und Filmfestivals. Sie wurde in Sofia geboren, lebt und arbeitet in Wien. www.borjana.net
Regie / Produktion / Schnitt: Borjana Ventzislavova
Mit: Songül Boyraz, Renée Gadsden, Esra Emine Demir, Maruša Sagadin, Claudia Slanar
Kamera: Hannes Böck
Ton: Kai-Maier Rothe
Text: Ovid Pop
Voiceover: Susanne Schuda
Produziert im Rahmen von: Exiled Gaze / Der exilierte Blick
16 Min.
Deutsch mit englischen Untertiteln
„wach bleiben / es nicht außer Acht lassen / hinter der Fassade / hinter den Mauern / die Klasse ballt sich zusammen wie Quecksilber / wach bleiben / es mit unseren Haaren heilen / diese kranke Stelle / diesen Hang zur Vorherrschaft / diesen bedingungslosen Anspruch auf den anderen / als wäre der andere nicht unsere ferne Stütze“
Die Textebene ist weder Narration noch Erklärung zu den Geschehnissen im Film, vielmehr rahmt der zum Film entstandene Text Ovid Pop diese und stellt poetische Behauptungen und Fragen in den Raum. Doch was genau sollte hier nicht „außer Acht“ gelassen werden?
Die Arbeit zeigt Orte österreichischer Geschichte und Politik, des aktuellen politischen Lebens sowie historisch signifikante Plätze am Wiener Ring, die Teil der Route von Hitlers „Triumphzug“ 1938 waren oder den Altan der Hofburg, welcher seit diesem Jahr unauflösbar mit der Rede zum „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich verknüpft ist und der am Ende des Filmes durch Esra Emine Demirs performative Handlung dekontaminiert wird. Weitere Schauplätze sind etwa Orte im zweiten und dritten Bezirk, an denen während des Nationalsozialismus Jüd*innen öffentlich gedemütigt wurden.
Wien steht dabei jedoch nur beispielhaft für viele Städte, Regionen, Länder weltweit, an denen verdrängte Geschichte und aktuelle rechtspopulistische Tendenzen präsent sind und sich überlagern.
Im Film And the Sky Clears Up (MAGIC RESISTANCE) treten fünf Frauen als Protagonist*innen auf, jede Einzelne vollzieht ein künstlerisches Ritual, um die ‚Geister der Vergangenheit‘ historisch belasteter Orte sowie den Spuk des aktuellen, rechts-populistisch geprägten politischen Geschehens zu vertreiben. Die Zusammenarbeit zwischen Borjana Ventzislavova und den Performer*innen gestaltete sich individuell sehr unterschiedlich – einige setzten genaue Anweisungen der Filmemacherin um, andere brachten eigenständige Performances ein, haben diese dann gemeinsam in Bezug auf die vorgegebenen Instrumente und Gegenstände weiterentwickelt und teilweise sehr spontan darauf reagiert. Diese graduelle, teils sehr intuitive Form von Partizipation und Kooperation drückt sich in den ganz unterschiedlichen rituellen Handlungen aus, die im Kontrast zu den monumentalen Plätzen und Bauten oder der gewaltigen Donau als leise, teils zärtliche, ephemere Interventionen auffallen. Die Rituale lassen verschiedene Referenzen erkennen wie Voodoo-Praktiken oder Traditionen indigener Kulturen. Borjana Ventzislavova übersetzt diese, ebenso wie Bräuche, die ihr aus ihrer Kindheit in Bulgarien geläufig sind, in ihre eigene künstlerische Sprache und transformiert ihre Bezüge zu neuen, universellen Handlungen.
In der Darstellung dieses künstlerischen Zusammenschlusses stellt der Film der bestehenden Repräsentation von Kultur und Staatlichkeit eine kulturell vielseitige und offene, weibliche und lebendige Sphäre entgegen, in welcher Magie, Ritual und Aberglaube als Techniken gegen die rationalistische Übermacht aufbegehren. Da diese sich längst entfernt hat vom Ideal, vernünftige Entscheidungen zum Wohl aller zu treffen, können plötzlich wieder ältere Wissensformen den Kampf mit ihr aufnehmen und ihr ebenbürtig sein.
„Wach bleiben“, „heilen“: die Möglichkeiten dazu, die And the Sky Clears Up (MAGIC RESISTANCE) aufzeigt, scheinen für Betrachter*innen erst einmal absurd – und doch könnten die Rituale etwas bewirken: als sie die Arbeit im Salzburger Kunstverein zeigte, musste zeitgleich die österreichische Regierung aufgrund des Ibiza-Skandals zurücktreten, erklärt die Künstlerin mit einem Augenzwinkern.
DeLorea Pontiac, Spintop, 2020 | Horizon, 2019
Hyperaktive Melancholie treibt DeLorea Pontiac in ein magisches Wunderland, in dem sie ihren Eskapismus-Sound kreiert. Inspiriert von eingängigen Popmelodien der 80er Jahre, dem Kitsch des 90er-Dream-Trance und der Schwermut von Dark Wave, beschließt sie, die Grenzen dieser Genres zu erweitern. Derzeit lebt die multidisziplinäre Künstlerin in Leipzig und produziert Musik und Videos hauptsächlich in ihrem Wohnzimmer. www.deloreapontiac.bandcamp.com
Spintop
Regie / Produktion: DeLorea Pontiac
Performerinnen: DeLorea Pontiac, Elisa Maria Zeisler
Kamera und Licht: Andreas Musall
Outfits: DeLorea Pontiac
Songwriting / Produktion and Mixing: DeLorea Pontiac
Mastering: Enyang Urbiks
Horizon
Konzept / Produktion: DeLorea Pontiac
Kamera: Foad Tauil
Songwriting & Production: DeLorea Pontiac
Mastering: Max Rieger
The Real Office im Gespräch mit DeLorea Pontiac
Das Video ist viel düsterer als Deine älteren Arbeiten, dazu trägt auch die brutalistische menschenleere Architektur bei. Wo habt Ihr das gedreht, was ist das für ein Ort?
Die Szenen in dem ruinenartigen Setting wurden in dem ehemaligen, vermutlich Ende des 15. Jahrhunderts gegründeten, Zinnbergwerk Rolava im Westen Tschechiens gedreht. Tagsüber ist der Ort ein beliebtes Ausflugsziel und wirkt auch weitaus weniger dystopisch als in meinem Video. Als es auch mich mal dahin verschlagen hat, wollte ich dort sofort was drehen. Während ich Spintop geschrieben habe, wusste ich recht schnell, dass es der passende Song für die Location ist. Richtig über den Ort recherchiert habe ich erst kurz vor dem Dreh, als schon alles geplant war. Dann habe ich herausgefunden, dass dort im 2. Weltkrieg Kriegsgefangene und Ostarbeiter ausgebeutet wurden. Das hat mich ziemlich verunsichert und ich habe mir viele Gedanken gemacht, ob ich dort überhaupt drehen sollte. Ich habe mich dann dazu entschlossen trotzdem zu drehen da der Song thematisch auch eher düster ist und ich denke, das vertreten zu können. Beim Dreh waren wir nur zu dritt und das war schon verdammt gruselig dort mitten in der Nacht.
„I have no time...“ Was bedeutet Zeit für Dich im Kontext dieses Songs?
Ich habe eigentlich immer das Gefühl, dass der Tag zu wenige Stunden hat und mir die Zeit davonrennt, weil ich viel mehr machen möchte, als realistisch betrachtet in einem gewissen Zeitrahmen möglich ist. Dieses ständige, von mir als sehr ungesund wahrgenommene, Gefühl, produktiv sein zu müssen ist eigentlich immer und überall präsent. Genau darum geht es in dem Song – um die Selbstausbeutung in unserer kapitalistisch geprägten Gesellschaft, der man sich ständig unterwirft, um eine Illusion des ‚Funktionierens‘ aufrecht zu erhalten. Der Song beschreibt auf sarkastische Art und Weise den Alltag einer nahezu zur Maschine gewordenen Person, die in Workaholic-Manier jede Sekunde dazu nutzt, Output und somit Selbstwertgefühl zu produzieren und hinterfragt/kritisiert dieses Verhaltensmuster durch Phrasen wie „I need to fill the void, and so i choose obsession“. In gewisser Weise fühle ich mich mit dieser Person sehr verbunden.
Immer wieder spielt Deine Musik, dazugehörig die Visuals, die Du bei Auftritten zeigst und auch Deine Videos mit unterschiedlichen 'Retro-Ästhetiken' (alte Videogames, Super-8-Look, Zwischentitel wie aus den Nullerjahren, Eurodance, 80er-Wave, etc.). Wie (bewusst) verwendest und vermischst Du diese Referenzen in Sound und Visuals?
Viele Leute verbinden die aufgezählten Ästhetiken mit Trash und überzogenem Kitsch, ich empfinde sie einfach als wunderschön. Sie funktionieren für mich auch als eine Art Rauschmittel. Wenn ich Musik und Visuals mache, greife ich sie ganz automatisch auf, um mich in einen Zustand von kurzzeitiger Euphorie zu versetzen – das passiert einfach. Allerdings kommt dann recht schnell das Bewusste ins Spiel, dann hinterfrage ich den künstlichen Glanz des Rausches und dessen Vergänglichkeit, die sich meiner Meinung nach besonders stark in diesen stilistischen Erscheinungsbildern widerspiegelt und ich werde etwas traurig und fange an, sie zu dekonstruieren. Deshalb haben meine Songs meistens auch einen sehr melancholischen, manchmal düsteren Touch.
In Horizon nutzt Du sehr explizit die Klischees von ‚coolen Karren und sexy Girls‘, die, obwohl sie als längst überholt gelten, immer noch in vielen Köpfen – auch in dieser Kombination – fest verankert sind. Auch der Name DeLorea Pontiac spielt damit, oder? Wie kamst Du auf diese Themen, die ja in dieser Form der Darstellung tendenziell eher von Männern genutzt werden?
Als der Name DeLorea Pontiac entstanden ist, hatte ich keine Fahrerlaubnis und dachte auch nicht, dass sich das jemals ändern würde. Für mich war Autofahren eher so eine Fantasie und ich hatte diese total überromantisierte Highway-Obsession und habe mir beim Musikmachen oft vorgestellt, wie ich nachts auf Autobahnen fahre, die aussehen wie in Neon Drive. Außerdem fand und finde ich (alte) Autos als simple Objekte, losgelöst von ihrer negativen Bedeutung für Mensch und Umwelt, einfach schön und sexy. Ich glaube, ich fand es auch ein bisschen lustig, mich wie zwei Autos zu nennen und mochte die prollige Kombi. Das ist zwar auch nichts Neues, aber ich sehe es schon als feministischen Akt, bewusst mit diesen Bildern und Wirkungen zu spielen und denke es schließt sich nicht aus, sexy Material zu produzieren und gleichzeitig Sexismen zu kritisieren.
Ich selbst sehe meine manchmal softporn-artige Ästhetik zwar als ernstzunehmende künstlerische Ausdrucksform, aber gleichzeitig vor allem auch als kritische Karikatur von den oben genannten Klischees. Der oft auch slapstickhafte Stil in Verbindung mit meinem Namen sollte doch erahnen lassen, dass meine Videos durchaus als Versuch gesehen werden können, diese Klischees auch durch humoristische Überspitzung zu hinterfragen und zu dekonstruieren.
Die Brüche in dem, wie Du Kinks und Sexyness präsentierst, zeigen, wie standardisiert Formen von Fetisch und Sexualität heute oft sind, obwohl sie eigentlich Ausdruck des Nicht-Normativen, Devianten, Queeren sein sollten/wollen. Wie stehst Du zu dieser Entwicklung, die versucht alles – gerade Queerness und Underground – in den Mainstream zu integrieren? Sind Deine Songs vor diesem Hintergrund auch gefährdet, anders interpretiert zu werden?
Ich stehe natürlich kritisch zu dieser Entwicklung. Wenn Ästhetiken und visuelle Ausdrucksformen von marginalisierten Gruppen (in dem Fall von queeren Menschen, Menschen, die Fetische bewusst ausleben) kopiert werden und im Mainstream Anerkennung und Hype erlangen, die Menschen, die diesen Stil jedoch geprägt haben, aber nach wie vor diskriminiert werden, läuft so ziemlich alles schief. Und leider ist es in der Regel genau so.
Natürlich adaptiere auch ich ganz offensichtlich Stilmittel aus diesen Subkulturen, doch da ich mich selbst als queer identifiziere und auch der Fetischbereich mir nicht fremd ist, stehe ich bewusst hinter dieser Ästhetik als Ausdrucksmittel meiner Persönlichkeit.
Giorgi Gago Gagoshidze, Die unsichtbare Hand meines Vaters, 2018
Die unsichtbare Hand meines Vaters
Giorgi Gago Gagoshidze erzählt in seinem Film in einer Mischung aus Drohnen-Bildaufnahmen, 3-D-Animation und Interviews die Geschichte seines Vaters, der als Gastarbeiter in Portugal seine Hand bei einem Arbeitsunfall verlor. In der filmischen Gegenwart lebt der Vater wieder als Landwirt in seiner Heimat – seine verlorene Hand existiert eigenständig weiter fort und arbeitet für ihren Besitzer, indem sie seinen Lebensunterhalt durch eine Invalidenrente sichert.
GIORGI GAGO GAGOSHIDZE (* 1983) ist Künstler und Filmemacher. Im Mittelpunkt seiner Praxis steht das bewegte Bild, insbesondere die politischen Aspekte seiner Produktion und seine gesellschaftspolitischen Kontexte. Gagoshidze wurde in Georgien geboren und lebt in Berlin.
Produziert von Giorgi Gago Gagoshidze
Produktion / Regie / Schnitt / Drehbuch: Giorgi Gago Gagoshidze
Mit: Nugzar Gagoshidze
Musik: John Adams, Arseny Avraamov, Iliko Gogiberishvili, Tim Hecker, Giorgi Koberidze und Mark Pritchard
Ton: Giorgi Koberidze
Recherche mit Unterstützung der Kulturabteilung des Berliner Senats
24 Min.
Englisch und Georgisch mit englischen Untertiteln
The Real Office im Gespräch mit Giorgi Gago Gagoshidze
Der Film beschäftigt sich direkt mit dem Schicksal Deines Vaters und einem Ereignis, das sein Leben prägte. Wie waren der Prozess des Schreibens und Produzierens dieses Films; könntest Du uns auch mehr über die Gespräche mit Deinem Vater erzählen? Hat sich die Perspektive Deines Vaters auf seine Situation nach dem Film verändert?
Obwohl diese Arbeit sich explizit mit dem Schicksal meines Vaters auseinandersetzt, ist es kein Dokumentarfilm über meinen Vater, eher versucht sie seine persönlichen Erfahrungen nicht ins Zentrum zu rücken, um globale geopolitische Veränderungen, welche direkt oder indirekt seinen gesellschaftlichen und physischen Körper geprägt haben, zu kommentieren. Während der Produktion des Films versuchte ich, unterschiedliche visuelle und sprachliche Methoden anzuwenden, um die nötige Distanz zu meinem Vater zu bewahren und so zu vermeiden, dass ein sentimental aufgeladener Film entsteht, der nichts weiter macht, als sein persönliches Trauma auszuschlachten.
Obwohl er mich mit den Interviews und beim Dreh voll unterstützte und vorbehaltlos teilnahm, wollte er sich die finale Version des Films nicht ansehen. Ich schätze, das kann ich verstehen.
Die unterschiedlichen Perspektiven in Deiner Arbeit – Close-Ups, Drohnen, Renderings – beziehen sich auf verschiedene Ebenen der Geschichte. Könntest Du die Wahl der Techniken und wie sie sich auf die Erzählung beziehen erklären?
Der erzählerische Teil des Films ist aus den unterschiedlichen Perspektiven der drei Hauptcharaktere des Films konstruiert: Nugzari (mein Vater), der seine eigene Lebensgeschichte erzählt, die unsichtbare (verlorene) Hand meines Vaters, die ihre Perspektive auf den derzeitigen Zustand des Vaters ‚herauskrampft‘, und ich selbst, der sich die Geschichte als seine Erzählung aneignet und sie umformt, um sie als Kommentar in Form eines Voice-Over zu verwenden. Verschiedene Formen von computergenerierten Bildern (CGI, computer-generated images), Drohnenmaterial und auf Kameraobjektiven basierenden Bildern hängen mit diesen Figuren zusammen.
Für mich war es zum Beispiel wichtig, eine Methode zu finden, wie ich mit der Herausforderung umgehen kann, etwas wie der unsichtbaren Hand von der ich im Film behaupte, dass unklar – und vor unserer Wahrnehmung verborgen – sei, wie sie funktioniert, einen sichtbaren Körper zu geben. Darum dachte ich, dass es Sinn macht ihr Bild digital zu modellieren, als Symbol für etwas, das weder das menschliche Auge sehen noch ein Kameraobjektiv erfassen kann.
Darüber hinaus könnten die Aufnahmen der Drohne als Perspektive der schwebenden Hand wahrgenommen werden, in welcher sich der Film erschließt, während sie sich von der Prothese zur CGI-Hand hochwindet. Der Film endet mit der Sicht einer Drohne auf meinen Vater, der versucht, sie auf den Boden zu bekommen; diese Aktion verwandelt sie zu einem einfachen Mittel der Bilderzeugung.
Die Hand Deines Vaters wird zur symbolischen Figur innerhalb der Erzählung. Was ist der wichtigste Aspekt oder deren Bedeutung für Dich?
Auf der symbolischen Ebene funktioniert der Körper meines Vaters als Karte, auf der man den Wandel politischer Ideologien der letzten Jahrzehnte nachvollziehen kann. Er durchlebte zwei unterschiedliche politische und ökonomische Systeme, vom Sozialismus, der durch die ‚geballte Arbeiter*innenfaust’ charakterisiert wird, zur liberalen Ökonomie, die durch „die unsichtbare Hand des freien Marktes” repräsentiert wird. Der Film ist ein Versuch, die unsichtbare Hand, die mein Vater als Gastarbeiter in Portugal während der Finanzkrise 2008 verlor, zu verfolgen. Dadurch, dass ich das kontextualisieren und untersuchen konnte, versuchte ich die herrschende Logik ‚seiner unsichtbaren Hand’ zu verstehen, die eine neue Form der Arbeit für ihn darstellt und die Ökonomie seiner Familie bestimmt.
An einem bestimmten Moment des Films findet seine verlorene Hand einen Weg durch die liegengelassene Prothese zu betonen, dass selbst wenn wir diese nicht sehen könnten, die Effekte ihrer ‚Nicht-Existenz’ auf ihn und seine Familie nicht zu leugnen seien. Für mich ist dieser Moment sehr wichtig, an dem die verlorene Hand im Film ihre Stimme findet und die Dimension der unsichtbaren Arbeit einführt. Eine Arbeit, die sehr wohl existiert, so viel zur Gesellschaft beiträgt und doch immer unsichtbar bleibt.
Denkst Du, dass die Erzählung dieser Geschichte Einzelnen hilft, die komplexen Abhängigkeiten, denen sie gegenüberstehen, zu entwirren?
Das Erstellen eines Werkkomplexes dient für mich dazu, eine Art Prisma zu konstruieren, das bestimmte Parameter enthält, die dabei helfen, die Stufen und Spuren einer unsichtbaren Menge an ökonomischen und politischen Voraussetzungen, die ein Subjekt formen, zu erklären und zu analysieren. Die Beobachtung ‚unbedeutender‘ und ‚gewöhnlicher‘ Ereignisse durch dieses Prisma sollte Wege erschließen, die es möglichen machen, die Geschichte im Zusammenhang größerer sozialer und politischer Kontexte zu sehen. Zumindest war es das, was ich mit Die unsichtbare Hand meines Vaters versucht habe.
Ein Projekt von THE REAL OFFICE in Kooperation mit dem Kunstverein Wagenhalle e.V., gefördert vom Kulturamt der Stadt Stuttgart.
info@realofficers.net
Konzept/Kuration/Text: The Real Office (Birgit Gebhard, Maximilian Lehner)
Design: Levin Stadler
Korrektorat Englisch: Giuliana Racco
A project by THE REAL OFFICE in cooperation with Kunstverein Wagenhalle e.V., funded by Kulturamt der Stadt Stuttgart.
info@realofficers.net
Concept/curation/text: The Real Office (Birgit Gebhard, Maximilian Lehner)
Design: Levin Stadler
Proofreading English: Giuliana Racco